Maria Camila Ruiz Lora

Nehmt Platz
im Stadtfeld!

Fußverkehr
Wohnzimmer

Wie die Magdeburger Stadtraum neu erleben und mitgestalten

Ein paar Leute in Liegestühlen sitzen entspannt auf der Straße. Die hohen Borde an den Gehwegen dienen als Sitzgelegenheit. Auf der anderen Straßenseite matschen Kinder aus Wasser und Sand Eis für ihre Eltern. „Statt Strand“ steht auf einem Schild darüber. Statt Lieferwagen rauschen hier heute Bobby-Cars über den Asphalt. Dieser ist mittlerweile bunt statt grau. Kreidebilder überall. Farbenfrohe Wimpelketten geben dem Raum seine Kanten und dem Platz ein hübsches Sommerdach. Die Stimmung auf dem „Urst urbanen Straßenfest“ in Magdeburg Stadtfeld ist ausgelassen und allem voran entspannt. Kein Auto stört das bunte Treiben. Hier wird ein Stück Straße zurückerobert. Mehr als 1.000 Menschen sind gekommen an diesem Sommertag im Mai.

Von Franziska Briese, www.imstadtfeld.de
und Tim Schneider, www.metaarchitektur.de
Dieser Text ist in längerer Version bei PLANERIN erschienen.

 

Die Große Diesdorfer Straße durchzieht mit vier Fahrspuren und Straßenbahngleisen auf sechs Kilometern Länge die Stadtteile Stadtfeld Ost und West in Magdeburg. Fließender Kfz-Verkehr dominiert die gesamte Fläche. Während die Fahrbahn ausschließlich den Autos vorbehalten ist, wird der Fuß- und Radverkehr an den Rand gedrängt. Aus der rein verkehrstechnisch geprägten Straßenraumaufteilung ergeben sich große Defizite. Autofahrer „rasen“ oftmals mit mehr als den erlaubten 50 km/h die Magistrale entlang. Quer durch das kinderreichste Wohngebiet und ein belebtes Stadtteilzentrum.

Auf der Höhe der Maxim-Gorki-Straße ergibt sich dennoch eine reizvolle Situation. An einer schrägen Einmündung einer Seitenstraße entsteht vor einer bemerkenswerten Fassade eine Art Platz. Derzeit lädt hier nichts zum Verweilen ein. Es fehlt an Ausstattung, Fahrradstellplätzen, Interaktion und Information. Großformatige, lieblos bepflanzte Kübel verbessern die räumliche Wirkung nicht. Dem entgegen steht, dass immer mehr junge Menschen sowie Familien mit Kindern und auch Rentner einen urbanen Lebensstil bevorzugen und auch „zwischen den Häusern“ leben wollen. Beste Voraussetzungen also für die Gestaltung eines Platzes.

Ein Straßenfest im kinderreichsten Stadtviertel Magdeburgs

Das Stadtfelder Geschäftsstraßenmanagement unter der Leitung von Franziska Briese und Maria Camila Ruiz Lora träumte schon lange von einem kleinen Straßenfest, das dem am dichtesten besiedelten und kinderreichsten Magdeburger Stadtteil gerecht wird. Als das Stadtplanungsamt für den bundesweiten Tag der Städtebauförderung am 13. Mai 2017 dann ein kleines Budget freigab, war der Weg für einen Platz auf einer Kreuzung frei. Schon im 2012 publizierten Handlungskonzept für den Stadtteil wurde durch META architektur die Vision eines „Gorkiplatzes“ an dieser Stelle erstmals erwähnt.

In nur sechs Wochen wurde mit viel Unterstützung aus dem Stadtteil und einer Gruppe Studierenden des deutschlandweit einmaligen Studiengangs Cultural Engineering der OVGU Magdeburg die Intervention im öffentlichen Raum auf die Beine gestellt.

Die Bürgerinnen und Bürger selbst sind gefragt, die Rückeroberung der Straße voranzutreiben. Wir gaben den Rahmen vor, den Anstoß, eine Straßensperrung und andere nötige Infrastruktur. Die Leute hier sind verantwortlich für ihren Stadtteil.

betont das Geschäftsstraßenmanagement. Viele lokale Akteure waren sofort begeistert von der Idee, „setzten sich mit ins Boot“ und brachten sich aktiv ein – Händler, Vereine und Anwohner. Heraus kam ein handgemachtes, liebevoll gestaltetes Format mit zahlreichen Möglichkeiten der Partizipation. Ein Bürgerverein sammelte Namensvorschläge für den Platz, den es nicht gibt. Eine Videobox für Liebeserklärungen an den Kiez stand bereit, eine Pinnwand sammelte Gedanken zu den Wünschen der Bewohner. „Stadtfeld hat…“ auf der einen Seite, „Stadtfeld braucht…“ auf der anderen. Die Pinnwand mit der Aufschrift „Stell dir vor! Stadtfeld 2025. Was siehst du?“ fragte nach Visionen, ohne gleich an die Machbarkeit zu denken.

Maria Camila Ruiz Lora

Ein Tisch stellte eine riesige Stadtteilkarte dar. Die Besucher fädelten mit farbigem Garn und Stecknadeln ihre Wege durch das Quartier. Die, die sie bei Sonnenschein zu Fuß gehen, und die, die sie mit dem Fahrrad meiden. Die Ergebnisse sind deutlich und sprechen nicht für die Aufenthaltsqualität der größten Straße im Quartier. Die gesammelten Zettelchen, Schnipsel und Gedanken an diesem Tag machen eines deutlich: Die Stadtfelder wünschen sich Straßen für Menschen. Lebensraum für die Nachbarschaft. Lebensraum für Menschen auf dem Weg zur Arbeit.

Derzeit werden die erhobenen Daten gesammelt, aufbereitet und ausgewertet. In weiteren Aktionen sollen die Ergebnisse im Quartier präsentiert und die künftige Arbeit des Geschäftsstraßenmanagements eng an die Wünsche angepasst werden.

Mehr Platz für Fußgänger, Radler und Shared Space

Ab 2020 wird die „Diesdorfer“ auf ihrer gesamten Länge umgebaut. Das Gleisbett für die Straßenbahnen muss erneuert werden. Eine gute Gelegenheit auch für eine städtebauliche Aufwertung der Achse hin zu einer menschenfreundlichen Straße. Vor allem im Bereich des Stadtteilzentrums könnten ein Platz, die Verlegung der Straßenbahnhaltestellen, barrierefreie Wege, Radwege, Baumpflanzungen und breitere Bürgersteige dieses enorm aufwerten und stärken. Denn: Wer Lebensqualität in der Stadt will, setzt am besten bei der Straßengestaltung an. Eine Straße ist wichtiger Lebensraum für alle. Dafür braucht es aber mehr Platz für Fußgänger und Radler, neue Konzepte wie Shared Space und niedrigeres Tempo. Das „Urst urbane Straßenfest“ am 13. Mai 2017 inszenierte eine Vision, die bald Realität sein könnte, warb erfolgreich für neues, urbanes Denken und Handeln sowie Akzeptanz hierfür.

Philipp Böhme

Im Juni 2016 wurde das Stadtfelder Büro META architektur GmbH vom hiesigen Stadtplanungsamt mit dem Geschäftsstraßenmanagement beauftragt. Seither probiert das junge Team neue Dinge im Quartier und gestaltet so urbane Zukunft mit. Ziel ist die Stärkung des Stadtteilzentrums, auch als ein Ort der Kommunikation. Ein Ort der Begegnung. Das urbane Leben drängt zurück auf die Straße. Daher muss eine ganzheitliche Diskussion über Flächengerechtigkeit im öffentlichen Raum geführt werden.

Franziska Briese und Maria Camila Ruiz Lora planen mit der Unterstützung der Studierenden weitere Interventionenim Stadtteil. Die Liebeserklärungen aus der Videobox sollen in einem Fassadenkino präsentiert, die gesammelten Ideen in kleinen Freiluftgalerien gezeigt werden.

Wir möchten die Bürgerinnen und Bürger ermutigen, selbst aktiv zu werden, sich einzumischen und mitzugestalten.

so Briese. So schön das Straßenfest auch war, nicht alle Händler am „Platz“ sind begeistert von einem Platz im klassischen Sinne.

Einige Händler fürchten um ihre Existenz, sollte die Durchfahrt für Kraftfahrzeuge geschlossen werden. Das zeigt uns, dass neue Ideen wie Shared Space oder einfach nur schmalere Einmündungen nicht von allein vorkommen in den Köpfen. Platz bedeutet für sie gleichsam Sackgasse und Stillstand.

Beteiligungskultur: „Stadt machen“ von unten

Dabei ist Fußverkehr die Basis jeder Mobilität in einer Stadt. Es ist also noch viel zu tun in Stadtfeld. Die Bewohner möchten mitgenommen werden. Die verschiedenen Interessenlagen müssen berücksichtigt und Vorbehalte abgebaut werden. Dazu braucht es auch ein Umdenken in der amtlichen Stadtplanung. Eine Beteiligungskultur und ein „Stadt machen“ von unten. Die Kommunen sind aufgefordert, die zentralen Nutzungen der Straße wie Aufenthalt, Austausch und Anregung, d.h. urbane Kommunikation, neben der verkehrlichen, anzuerkennen und sie stärker zu berücksichtigen.

Zurück auf dem „Gorkiplatz“: Es ist Abend geworden. Noch immer ist der Platz voll mit Menschen jeden Alters. Die Stimmung ist heiter. Ein Regenschauer kündigt sich für 21 Uhr an. Schnell ist alles beiseite geräumt. Der Schauer spült die Menschen zurück in ihre Häuser und die Kreidefarbe in die Gosse. Als wäre nichts gewesen. Schnell noch die Sperrungen zur Seite geräumt. Ab morgen rollen hier wieder lärmende Autos, Lieferwagen und Lkw. Und die dulden keine Störungen im Berufsverkehr…

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