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Radverkehr

Empowerment auf zwei Rädern

„Yalla, habibti! Auf gehts!“ Die ersten Meter sind noch sehr wackelig, aber mit jeder Runde sitzt Butheina fester im Sattel, wächst das Lächeln in ihrem Gesicht. Es ist einer der ersten richtig kalten Tage in diesem Jahr. Die bunten Laubblätter wirbeln im Wind umher. Doch die herbstlichen Temperaturen halten die Frauen, die sich auf dem Wassertorplatz in Berlin-Kreuzberg versammelt haben, nicht von ihrem heutigen Ziel ab: Fahrradfahren lernen!

Von Lisa Buchmann (VCD)

Tausende Menschen aus Syrien und anderen konfliktträchtigen Regionen weltweit suchten 2015 Schutz in Deutschland. Die beiden leidenschaftlichen Radlerinnen Annette Krüger und Anne Seebach engagierten sich damals in verschiedenen Notunterkünften in Berlin für Geflüchtete: „Wir haben die Situation dort gesehen und dachten, es wäre doch etwas Schönes, die Frauen mal zu fragen, ob sie Fahrradfahren lernen wollen.“ So könnten sie der Enge und den Sorgen in der Unterkunft für ein paar Stunden entfliehen. Gesagt, getan: Bei ihrem nächsten Besuch brachten Annette und Anne ein Fahrrad mit und veranstalteten ihr erstes improvisiertes Fahrtraining auf einem leer stehenden Parkplatz in Moabit. Zuerst trauten sich nur die Kinder, aber als ihre Mütter sahen, wie viel Spaß die Kleinen hatten und dass sie sich in einem geschützten Umfeld bewegen konnten, wurden sie neugierig. Einmal ausprobiert, konnten sie nicht genug davon bekommen. „Was das für ein Wespennest war, in das wir da gestochen haben, haben wir nicht gewusst“, erinnert sich Annette. In den Tagen darauf fragten immer mehr Frauen, wann sie endlich wieder aufs Rad steigen könnten.

Drei Jahre später ist #BIKEYGEES ein eingetragener gemeinnütziger Verein und bietet einmal im Monat auf dem Gelände der Jugendverkehrsschule in Kreuzberg ein offenes Radfahrtraining für Frauen und Mädchen ab 14 Jahren an. Die stolze Bilanz nach 84 Radfahrtrainings: 580 Frauen und Mädchen, die Radfahren gelernt haben.

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„Willst du Fahrradfahren lernen oder helfen?“

An diesem Sonntag treffen sich die ersten Helferinnen schon kurz vor dem offiziellen Trainingsbeginn auf dem Übungsplatz. Während wir eine Einführung von #BIKEYGEES-Gründerin Annette bekommen, trudeln immer mehr Frauen ein. 30 Helferinnen haben sich vorab angemeldet, am Ende sind es insgesamt fast 70 Frauen, die mitmachen – ohne die Helme könnte man in dem bunten Gewusel kaum erkennen, wer Helferin und wer Schülerin ist.
Lea organisiert heute das Training und versucht ein bisschen Ordnung in das Chaos zu bekommen: „Willst du Fahrradfahren lernen oder helfen?“ Das ist im Moment die einzige Frage, die zählt. Alter, Herkunft, Religion – alles zweitrangig. #BIKEYGEES wollen die Frauen von der ersten Minute an aufs Rad bringen. Jeweils zwei Helferinnen haken sich rechts und links bei einer Lernwilligen unter. Und dann geht es auch schon los. Zu meinem Team gehören Anja und Butheina. Am Anfang schlenkert das Fahrrad mit Butheina im Sattel noch unsicher hin und her, aber Anja und ich halten sie fest an den Armen. Trotzdem bleiben wir alle paar Meter stehen, weil Butheina zwischendurch lieber wieder festen Boden unter den Füßen spürt. „Ich glaube, das Fahrrad ist kaputt.“ Kurz erklärt, was eine Rücktrittbremse ist und weiter gehts. Mit jeder Runde läuft es besser. „Gerade aus, schau gerade aus.“ Nach und nach lässt die Angst nach, die Unterbrechungen werden weniger und Butheina tritt immer fester in die Pedale. Spätestens nach der zehnten Runde sind wir Helferinnen ganz schön aus der Puste. Aber Butheina haben nun die Lust und der Ehrgeiz gepackt und sie übt alleine auf einem Dreirad weiter. „Meine zwei kleinen Schwestern können Fahrradfahren. Ich selber habe es leider nie gelernt“, erzählt sie später. Was für ein Privileg es ist, dass meine Eltern mir schon als kleines Kind das Radfahren beigebracht haben, quasi nebenbei, ohne große Anstrengung: Das wird mir gerade erst bewusst. Auch wenn Butheina heute noch nicht ganz alleine fahren kann, will sie auf jeden Fall wiederkommen: „Es hat Spaß gemacht!“

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Jeden dritten Sonntag im Monat treffen sich die Frauen von #BIKEYGEES um 14 Uhr zum offenen Training hier am Wassertorplatz – und zwar das ganze Jahr über, egal ob ihnen im August bei 35 Grad der Schweiß von der Stirn läuft oder bei Wind, Regen und eisigen Temperaturen die Finger abfrieren. Zwar steht das praktische Radfahrtraining im Vordergrund, die Vermittlung der Verkehrsregeln wird bei #BIKEYGEES aber nicht weniger ernst genommen. Inzwischen können sie den theoretischen Verkehrsunterricht in verschiedenen Sprachen (u. a. Deutsch, Englisch, Arabisch und Farsi) anbieten. Das extra dafür entwickelte Lernmaterial ist bunt, leicht verständlich und bringt Spaß und Freude am Lernen der sonst eher trockenen Verkehrsregeln. Darüber hinaus gibt es einen Crashkurs im Fahrradreparieren: Wie flicke ich eigentlich ein Loch im Reifen? Was kann ich tun, wenn die Bremsen nicht mehr richtig funktionieren? Und was ist überhaupt ein Inbusschlüssel? Denn auch das stärkt das Selbstbewusstsein und fördert die Eigenständigkeit: Zu wissen, wie mein Fahrrad funktioniert und nicht wegen jeder Kleinigkeit auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Inzwischen bekommen die Frauen, wenn sie soweit sind und eine kleine theoretische Prüfung abgelegt haben, sogar ein eigenes Fahrrad inklusive Schloss und Helm und können so ihre Radfahrskills gleich im Alltag einsetzen.

»Die Tatsache, dass man gesehen hat, wir können das Leben eines Menschen – in dem Fall einer Frau oder eines Mädchens – in zwei Stunden sichtbar für immer verändern, das hat uns so motiviert«, erinnert sich Annette an die Anfangszeit von #BIKEYGEES.

Dass ihr Konzept aufgeht, zeigt nicht nur die beeindruckende Anzahl von 580 Teilnehmerinnen, die sie im Laufe der letzten drei Jahre aufs Rad gebracht haben. Auch der 1. Platz des Deutschen Fahrradpreises und die Auszeichnung mit dem Hatun-Sürücu-Preis, den die Grünen Fraktion Berlin an Initiativen verleiht, die sich für das selbstbestimmte Leben von Frauen und Mädchen einsetzen, sprechen für sich.

Jede Frau auf der Welt sollte Radfahren können

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Bei #BIKEYGEES geht es allerdings um mehr als nur darum, Frauen das Fahrradfahren beizubringen. Es geht um Empowerment und Unabhängigkeit, um Integration und Gemeinschaft, um CO2-neutrale Mobilität und Freude an der Bewegung an der frischen Luft. „Jede Frau auf der Welt sollte Radfahren können. Und dürfen“, heißt es auf der Homepage des Vereins. In vielen Ländern, aus denen die Teilnehmerinnen kommen, gilt Fahrradfahren für Frauen jedoch als unsittlich und ist deswegen eher Männersache. In weiten Teilen Afghanistans und im Iran ist es ihnen sogar verboten. Die Frauen erledigten deshalb früher die meisten ihrer Wege im Alltag zu Fuß. In Berlin aber sind die Strecken von A nach B oft weit und unattraktiv. Viele der Unterkünfte für Geflüchtete liegen weit ab vom Schuss, die Menschen fühlen sich isoliert. Im Gegensatz zu ihren Heimatländern ist die Straße hier außerdem selten ein Ort der Begegnung und des Austausches. Das Fahrrad kann ihnen dabei helfen mobil zu sein und ihr neues Lebensumfeld eigenständig zu erkunden. Es wird so zum grundlegenden Baustein für die (Rück-)Erlangung individueller Mobilität und erleichtert ihnen die selbstbestimmte und unabhängige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

„Ich bin in Saudi-Arabien aufgewachsen, aber in Saudi-Arabien fahren Mädchen nicht Rad“, erzählt Hoda. Sie ist für einen Job als Softwareentwicklerin nach Berlin gekommen und hat über Freundinnen von #BIKEYGEES gehört. Ihre Augen leuchten, wenn sie vom Fahrradfahren redet: „Der beste Moment war, als ich realisiert habe: Ich kann es. Ich hätte nicht gedacht, dass ich es so schnell lernen kann. Wenn man es nicht ausprobiert, ist da immer diese Angst.“ #BIKEYGEES bietet den Frauen einen sicheren Raum, in dem sie eben diese Angst überwinden und sich ohne Vorurteile frei bewegen können.

Fahrradfahren macht Freu(n)de

Die Kurse richten sich nicht nur an Geflüchtete. Alle Frauen sind willkommen, egal wie alt sie sind, wo sie herkommen oder welcher Religion sie angehören. Das sieht man an dem bunten Haufen, der sich heute zusammengefunden hat. Ein paar Fleißige drehen noch ihre Runden über den Platz, die meisten sind aber inzwischen vor der Kälte nach drinnen in den Gemeinschaftsraum der Jugendverkehrsschule geflohen.

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Während eine ältere Dame am Tisch gerade auf Französisch den Unterschied zwischen der Vorfahrt an der nächsten Kreuzung und einer Vorfahrtstraße erklärt, hat sich in einer anderen Ecke eine kleine Runde bei heißem Tee und Keksen zusammengefunden und plaudert angeregt auf Arabisch.

Anja ist zufrieden. Sie gibt Deutschunterricht und ist heute mit ein paar ihrer Schülerinnen da. Beim letzten Mal hatte sich nur eine davon getraut zum Fahrradtraining zu kommen. „Aber die Mundpropaganda funktioniert!“ Die begeisterten Erzählungen vom Training haben die anderen letztendlich überzeugt. Dieses Mal sind vier von ihnen am Start. Klar sind sie zum Radfahren lernen hier. Für Anja ist es aber genauso wichtig, dass die Frauen auch außerhalb der Schule zusammenkommen und sich austauschen. #BIKEYGEES wird so zum Ort der Kommunikation, wo Menschen sich begegnen, Berührungsängste abbauen und Freundschaften knüpfen.

Nach über zwei Stunden Fahrtraining, Theorieunterricht und gemütlichem Beisammensein sind zwar alle etwas erschöpft, aber die Begeisterung und das neu gewonnene Selbstbewusstsein steht den Frauen ins Gesicht geschrieben. Und Anjas Schülerinnen wissen auch schon, was ihr nächstes Ziel ist: Schwimmen lernen!

Der Erfolg von #BIKEYGEES fällt nicht einfach vom Himmel. Neben dem Engagement der beiden Gründerinnen lebt der Verein vor allem vom Einsatz der zahlreichen freiwilligen Helfer*innen. Auch viele der ehemaligen Teilnehmerinnen engagieren sich weiterhin bei #BIKEYGEES, nachdem sie das Training erfolgreich abgeschlossen haben.
#BIKEYGEES‘ Traum: Die Verbreitung ihrer Idee in ganz Deutschland. Inzwischen bekommen sie beinahe täglich Anfragen aus anderen Berliner Stadtteilen und ganz Brandenburg. Nur: Allein mit ehrenamtlichem Engagement ist das nicht zu wuppen. Der Verein wird hauptsächlich über Geld- und Sachspenden finanziert. Um ihren Traum zu erfüllen, freuen sich die Frauen von #BIKEYGEES deswegen über jegliche Unterstützung – auch von offizieller Seite. Erzähle also deinen Freund*innen und Verwandten davon und trage die Idee an eure*n (Bezirks-)Bürgermeister*in.
Du hast Lust selber mit anzupacken? Dann informiere dich auf der #BIKEYGEES Homepage, wann das nächste Training stattfindet und komm vorbei. Oder schnapp dir eine Freundin und ein Fahrrad und klopft selbst bei der nächsten Unterkunft für Geflüchtete an.

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