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Wem gehört die Stadt?

Auf dem Österreichischen Platz stehen jetzt keine Autos mehr. Stattdessen können die Bürger*innen den Raum zwei Jahre lang nach ihren Ideen und Vorstellungen gestalten. Der Verein Stadtlücken e.V. findet in Stuttgart die Lücken der Stadt und erobert sie gemeinsam mit den Menschen vor Ort zurück.

Von Lea Gröger (VCD)

Unter der Stuttgarter Paulinenbrücke ist seit kurzem jeden Tag etwas los. Ob Bingo oder Qigong, Tischtennis oder Diskussionsrunde – hier passiert etwas. Ein Chor traf sich einige Wochen lang regelmäßig unter der Brücke zur öffentlichen Probe. In den Ferien verwandelte sich der Platz in eine Spiel- und Spaßwiese für Kinder. Es gab kostenlose Meditationskurse und ein Sommerkino mit Popcorn. Jetzt im Herbst kocht jeden Dienstag die Foodsharing-Commons-Kitchen unter der Brücke: Mit geretteten Lebensmitteln tolle Mahlzeiten zaubern und sich besser kennenlernen – diese Idee kommt gut an.

Auf dem Österreichischen Platz unter der Paulinenbrücke finden Menschen zusammen. Sie erleben den Stadtraum neu und erobern ihn sich zurück. Aber so sah es hier nicht immer aus.

Den Stadtraum mitgestalten

Im Jahr 2015 stehen auf dem Österreichischen Platz in Stuttgart hauptsächlich Autos. So viele, dass sich eine Gruppe Gestalterinnen und Gestalter unterschiedlicher Disziplinen fragt: Wo ist eigentlich dieser Österreichische Platz? In ihrer Abschlussarbeit setzen sie sich mit Freiräumen für Kreative und andere Bürger*innen der Stadt auseinander, die in Stuttgart immer weniger werden. 2015 präsentieren sie die Ergebnisse ihrer Masterarbeit schließlich in einer Ausstellung und zeigen anhand von Stadtplänen, wo sich diese Freiräume befinden.

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Nach der Ausstellung finden sich die Architekt*innen, Stadtplaner*innen, Künstler*innen und Designer*innen schließlich mit einer Idee zusammen: Die Bürger*innen müssen sich diese Lücken in der Stadt zurückerobern. Sie gründen den Verein Stadtlücken e.V., der heute aus etwa 15 aktiven Mitgliedern besteht.
„In einer lebenswerten Stadt muss es Lücken geben, also Freiräume, die nicht durchweg definiert und für Konsum, Arbeit, Verkehr oder Wohnen verplant sind“, findet Isabel Thoma von Stadtlücken e.V. „Hier kann sich öffentliches Leben entfalten: Menschen können sich begegnen, austauschen, neue Erfahrungen machen oder einfach nur eine schöne Zeit zusammen haben.“

Bei ihren regelmäßigen Stammtischtreffen im Theater Rampe dreht sich alles um die Frage: „Wem gehört die Stadt?“ Die Frage hätten sie bewusst offen gelassen, denn sie solle zum Nachdenken anregen: „Indem Menschen selbst etwas anstoßen, sich einbringen und mitgestalten, eignen sie sich ihre Stadt ja auch ein Stück weit an. Das viel zitierte ‚Recht auf Stadt‘ geht unserer Meinung nach auch mit einer Verantwortung einher: Nur wer sich selbst einbringt, kann auch mitgestalten“, sagt Isabel Thoma. Genau dafür brauche es die Möglichkeiten und Freiräume. „Wir finden, die Antwort auf diese Frage kann und muss immer wieder neu verhandelt werden – dafür möchten wir ein Bewusstsein schaffen.“

Menschen statt Autos

Einer der Freiräume ist der Österreichische Platz unter der Paulinenbrücke. Er ist der größte überdachte Platz in ganz Stuttgart und befindet sich am Rande des belebten Gerberviertels. Als die Stadtlücken den Platz entdecken, hat der Parkhausbetreiber Apcoa den Bereich unter der Brücke gepachtet und stellt 187 Parkplätze zur Verfügung. Genutzt wird aber nur ein Bruchteil davon, denn ein Parkhaus in der Umgebung ist für die Autofahrer*innen attraktiver. Darüber hinaus ist der Raum unter der Brücke seit vielen Jahren ein Treffpunkt der Stuttgarter Drogenszene.

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Im Oktober 2016 stellen die Stadtlücken einen provisorischen Kiosk unter der Brücke auf und fragen „Wo ist eigentlich der Österreichische Platz?“. Sie verkaufen Schals, Feuerzeuge sowie Postkarten mit dem Spruch und fragen die Bürger*innen, was sie sich für den Platz wünschen. Der Rücklauf an Ideen ist enorm und so präsentieren die Stadtlücken die Ergebnisse schließlich im zuständigen Bezirksamt.
Nach zähen Verhandlungen mit Politik und Verwaltung kommt Ende 2017 die Entscheidung: Der im Frühjahr 2018 endende Pachtvertrag mit Apcoa soll nicht verlängert werden. Stattdessen bekommen die Stadtlücken den Platz für zwei Jahre zur Verfügung gestellt – als Versuchslabor für die Stadtentwicklung. Oben drauf gibt es 80.000 Euro für Sachmittel, die von der städtischen Wirtschaftsförderung verwaltet werden.

Die große Platzeröffnung findet schließlich am 27. Juli 2018 statt. Die Stadtlücken erinnern sich gern an diesen Tag zurück:

„Seit jeher kannten wir – so wie alle Menschen in Stuttgart – die Fläche unter der Paulinenbrücke ja nur als triste Parkplatzfläche“, erzählt Isabel Thoma. „Dass sich dieser Raum auch ganz anders anfühlen kann, für diese Vorstellung haben selbst wir immer eine große Portion Fantasie aufbringen müssen.“

Zur Eröffnung singt am frühen Abend ein Chor, in einem symbolischen Akt schieben die Stadtlücken anschließend gemeinsam mit den Besucherinnen und Besuchern das letzte Auto vom Platz. „Angelockt durch die feierlichen Ansprachen, die Musik und die schräg hereinfallende Abendsonne hat sich die Fläche dann schnell mit Menschen gefüllt“, so Isabel Thoma. „An diesem Abend waren selbst wir überrascht, wie viel Leben plötzlich herrscht, wenn sich Menschen statt Autos hier aufhalten.“

Heute Podiumsdiskussion, morgen Kunstausstellung

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Die Nutzung des Österreichischen Platzes verändert sich während der Projektdauer stetig. Er weckt Begehrlichkeiten, alle möchten ein Stück von dem Platz abhaben. Es findet ein Coaching-Workshop statt, „Bingo!“ schallt es an Sommerabenden von allen Ecken des Platzes und freitags endet die Critical Mass jetzt unter der Paulinenbrücke. Eine Woche im Oktober 2018 steht unter dem Motto „Wohnen“: Die Initiative Adapter Stuttgart installiert dafür ein 39 Quadratmeter großes Wohnzimmer, in dem auch Konzerte stattfinden. Im Tiny House aVOID von Leonardo Di Chiara können alle Wohnen unter der Brücke testen. Und an einem Abend sind Vertreter*innen aus Wissenschaft, Planung und Politik zur Wohndebatte eingeladen. Sie diskutieren über die Fragen „Wie sieht es mit der Wohnlage in Stuttgart aus?“, „Können wir uns Wohnen überhaupt noch leisten?“ und „Wie wollen wir in Zukunft wohnen?“.

Heute das Motto „Wohnen“, morgen eine Fotografie-Ausstellung: „Das ist eine große Herausforderung!“, gibt Isabel Thoma zu. Ein paar grundsätzliche Spielregeln, z. B. den gemeinnützigen Aspekt, ein vielfältiges Angebot und freien Eintritt haben sie grob definiert, um in der Fülle der Anfragen nicht die Orientierung über ihre Projektziele zu verlieren.

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„Abgesehen davon lautet unser einziges Rezept: Reden, reden, reden!“ Jeden einzelnen Vorschlag diskutieren sie in einer offenen Gruppe. Wenn möglich, laden die Stadtlücken die Betreffenden zu einem persönlichen Gespräch ein und schauen, wie sie im konkreten Fall eine Entscheidung und Lösung finden können.

Neben unzähligen Ideen für Aktionen erreichen sie aber auch Stimmen der Anrainer. Zudem kommunizieren sie ständig mit verschiedenen politischen Stellen und Ämtern. Das kostet natürlich viel Zeit und Energie und nicht immer schaffen sie es, ihren eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. „Bei Projekten mit ergebnisoffenem, experimentellem Charakter führt an diesem Aushandlungsprozess aber unserer Meinung nach kein Weg vorbei“, stellt Isabel Thoma fest.

Einfach machen

Was langfristig mit dem Österreichischen Platz geschieht, diese Frage ist noch ganz offen. „Wir sind sicher, dass wir nach eineinhalb Jahren Experimentierphase ein paar Ideen gesammelt und erprobt haben werden“, so Isabel Thoma. Idealerweise entstehe danach eine tragfähige Struktur aus engagierten Menschen, die das Projekt langfristig weiterführen. Im besten Fall verbessere das Projekt zudem die Vernetzung und Kooperation zwischen Stadtverwaltung, Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft und stärke den Austausch sowie das gegenseitige Vertrauen. Die Stadtlücken hoffen auch, dass durch die Aktionen das Bewusstsein der Menschen für ihre Stadt geschärft wird. „Schön wäre, wenn möglichst viele die Erfahrung gemacht haben: Es macht Spaß, etwas zu verändern!“
Auf die Frage, was sie Menschen raten würden, die in ihrer Stadt Lücken entdecken und zurückerobern wollen, antworten sie alle ganz selbstbewusst: „Einfach machen!“

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