Kreative Lösung für ein allgegenwärtiges Problem
Gehwege sollen 2,50 Meter breit sein, mindestens. Sagt die Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen (FGSV) in ihren „Empfehlungen für Fußverkehrsanlagen“ (EFA). Die Idee dahinter: Zwei Personen können bei dieser Gehwegbreite ungestört aneinander vorbeigehen, auch mit aufgespannten Regenschirmen (Es gab auch eine Zeit vor Corona). Aber vor allem in den Städten sind diese 2,50 Meter ein nur sehr theoretisches Maß. Zum einen, weil ein Teil der Gehwege oft und nicht selten illegal – dabei dennoch dauerhaft geduldet – als Pkw-Parkplatz missbraucht wird. So lässt selbst das viel gelobte Projekt „Faires Parken in Karlsruhe“ dem Fußverkehr gerade noch 1,6 Meter Mindest-Gehwegbreite. Zum anderen aber fehlt es an Platz, weil der Gehweg auch als fester oder temporärer Abstellplatz für alles Mögliche dient: Straßenschilder und Stromkästen, Fahrradbügel und Abfalleimer, Parkscheinautomaten und Ladesäulen engen dauerhaft die Wege ein, dazu kommen wild abgestellte Räder, private Mülltonnen, Verkaufsständer und -flaggen, Tische, Stühle und Bänke für die Außengastronomie, natürlich E-Scooter, außerdem vereinzelt Mopeds, Mofas und sogar schwere Motorräder. Zudem versperren auch Dinge den Weg, die den zu Fuß Gehenden eigentlich helfen sollen, Sitzbänke zum Beispiel oder Spielmöglichkeiten für Kinder und Erwachsene. All das behindert die Fußgänger:innen und macht ihnen das Leben schwer, für mobilitätseingeschränkte Personen gilt das noch viel mehr. Fragt sich: Wer will da noch zu Fuß gehen?
Viele Städte plagen sich mit diesem Problem. In Stuttgart ist dazu eine Lösung entwickelt worden: das Stuttgarter Rechteck. Dieses Rechteck macht, was Schwaben lieben: Es räumt auf, in diesem Fall die Bürgersteige. Denn auf dem Rechteck soll Platz finden, was die Fußgänger:innen behindert – und kein Auto ist. Die Multifunktionsflächen haben meist die Größe von etwa einem Pkw-Parkplatz, manchmal auf von zweien. Da finden sich dann vielleicht drei Fahrradständer neben zwei Sitzwürfeln, links stehen ein Parkscheinautomat und die Parkplatzbeschilderung, rechts könnte ein Baumbeet das Rechteck begrenzen. Vor einem Kiosk in Stuttgarts Böblinger Straße soll das Rechteck Verkaufsständer aufnehmen, die Besucher:innen des Büdchens können hier auch ihre Hunde anbinden oder den Rollator parken.
Die Idee für das Stuttgarter Rechteck ist vor wenigen Jahren im Rahmen des Fußverkehrskonzepts für die baden-württembergische Landeshauptstadt entwickelt worden. Von der Planersocietät, einem Dortmunder Verkehrsplanungsbüro, das sich besonders auch mit dem Fußverkehr beschäftigt. Der Vorschlag zum Stuttgarter Rechteck ist eines von mehreren Aktionsprogrammen in dem Konzept. Erste Rechtecke hat die Verwaltung im Jahr 2021 aufgestellt. Und zwar auf früheren Pkw-Parkplätzen am Straßenrand. Der Platz wird umverteilt, weg vom ruhenden Pkw-Verkehr zugunsten des Fußverkehrs.
Natürlich könnte man auch einfach alle Parkplätze am Straßenrand streichen und/oder das Gehwergparken verbieten. Aber das führt oft zu erheblichen Konflikten mit Anwohner:innen und den Geschäftsleuten im Umfeld und ist deshalb nur schwer oder gar nicht umzusetzen. Mit dem Stuttgarter Rechteck geht die Stadt diesen Konflikten aus dem Weg und bietet stattdessen eine kreative, umsetzungsorientierte Lösung an. Vielleicht kein großer Schritt Richtung Verkehrswende, aber doch ein kleiner, der in die richtige Richtung führt. Werden die Rechtecke in regelmäßigen Abständen eingerichtet, wie es das Fußverkehrskonzept der Planersocietät empfiehlt, bleibt eine Gehweggasse gesichert frei und ist durchgehend nutzbar, dafür entfallen einzelne Parkplätze. Es gebe „große Konkurrenz um das wertvolle und knappe Gut des öffentlichen Raums“, sagt dazu Dr. Michael Münter, Leiter des Referats Strategische Planung und Nachhaltige Mobilität in Stuttgart. „Oftmals sind die Gehwege zu schmal, um allen Bedürfnissen gerecht zu werden. Gleichzeitig ist eine Verbreiterung der Gehwege aufgrund der Interessens‐ und Zielkonflikte an vielen Stellen schwer umsetzbar oder schlichtweg nicht möglich. Die Stuttgarter Rechtecke bieten hier eine sehr gute Lösung. Sie sind eine mögliche Alternative, damit es zu weniger Hindernissen oder Engstellen auf den Gehwegen kommt.“
Die Stuttgarter Verwaltung will jedes Jahr zehn weitere Rechtecke erstellen. Eines davon kostet etwa 10.000 Euro. Die Belegung variiert, je nach Umfeld. Die Stadt sieht sich hier als Vorreiter, hat aber natürlich kein Copyright. Stuttgarter Rechtecke kann und sollte es jeder Stadt geben. Wo Verwaltung oder Politik nicht selbst auf diese Idee kommen, können sie durch Aktivist:innen, Verbände vor Ort oder auch Nachbarschaftsinitiativen darauf gestoßen werden.
In Stuttgart sind die Rechtecke Teil einer umfassenden Fußverkehrsförderung. Die Landeshauptstadt hat schon jetzt einen hohen Fußverkehrsanteil von 26 Prozent im Modal Split; jeder vierte Weg wird also zu Fuß zurückgelegt. Doch die Stadt möchte noch mehr Menschen dazu bewegen, zu Fuß an ihr Ziel zu gelangen oder bewusst die Stadt zu erkunden. Dazu gibt es ein eigenes Budget für den Fußverkehr im städtischen Haushalt. In den Innenstadtbezirken soll ein Netz von 14 Hauptfußwegen entstehen, dazu kommen 16 Flanierrouten. Querungen sollen verbessert, Plätze neu gestaltet, Bäume neu gepflanzt werden. Zudem werden die Stäffele saniert, die vielen Freilufttreppen die Weinberge hinauf. All das ist Bestandteil des Fußverkehrskonzeptes für die Stadt. Solche Konzepte sollen in den nächsten Jahren auch für die Stuttgarter Außenbezirke erstellt werden. Ziel ist immer auch die Aufwertung des öffentlichen Raums. Hier werden weitere innovative Ansätze wie temporäre Spielstraßen oder Parklets genutzt. Schließlich soll die Stuttgarter City nach dem Konzept „Lebenswerten Innenstadt für alle“ nach und nach autofrei werden: Das Straßenrandparken entfällt dabei weitgehend, nur noch klar definierte Routen zu den Parkhäusern sind für die Kfz-Verkehr freigegeben.
von Lorenz Redicker
Wer das Vorbild des Stuttgarter Rechtecks nachahmen möchte, findet auf der Website der Planersocietät weitere Informationen.